Nicolas G. Hayek über die Schweiz und die Europäische Union
Rede von Nicolas G. Hayek, Präsident und Delegierter des Verwaltungsrates der Swatch Group AG, anlässlich des «Head of Missions Lunch Meetings» von Boris Lazar, Botschafter der Tschechischen Republik, am 16. März 2009 im Kursaal Bern. Die Originalversion ist die englische Fassung. Eine französische Übersetzung liegt vor.
Warum möchte die Mehrheit der Schweizer Bürgerinnen und Bürger – die echtesten und typischsten Europäer – der Europäischen Union nicht beitreten? Sollten wir beitreten oder nicht?
Exzellenzen, meine Damen und Herren, Herr Botschafter Lazar
Als Botschafter Lazar mich bat, das Wort an Sie zu richten, um Ihnen zu erklären, «warum die Mehrheit der Schweizer Bürger der Europäischen Union nicht beitreten möchte», entschied ich mich, seiner Einladung im Geiste eines Beitrages zu einem besseren Verständnis zwischen der Europäischen Union und dem durchschnittlichen und konstruktiven Schweizer Bürger, den ich heute zu vertreten suche, Folge zu leisten. Bitte erachten Sie meine Ausführungen nicht als Präsentation wissenschaftlicher Forschung, sondern als die Ansichten und Positionen eines Schweizers, der zu der von mir erwähnten Mehrheit gehört.
Bei ihrer Gründung im Jahre 1957 und für viele weitere Jahre erachtete ich das, was nun die Europäische Union geworden ist, als eine grossartige und wunderbare Leistung. Ich war damals ein relativ junger Mann. Viel später lud mich Jacques Delors, damaliger Präsident der EG-Kommission und ein leidenschaftlicher Europäer, regelmässig in sein Büro in Brüssel ein. Ich diskutierte zunächst mit ihm alleine und später zusammen mit vielen Europäern, damals vor allem deutschen und französischen Industriellen und Unternehmern. Die Diskussion drehte sich um die Frage, wie sie die japanische Konkurrenz, damals Japan Incorporated [deutsch: Japan AG] genannt, überwinden könnten, und zwar ohne finanzielle Hilfe der Regierung oder der Europäischen Union, so wie wir das in der Schweiz mit der Uhrenindustrie erreichten, die damals massiv unter Druck der japanischen Uhrenindustrie stand. Jacques Delors nannte meine Auftritte immer «L’histoire de la montre» – die Geschichte der Uhr.
An vielen dieser Treffen wiederholte er auch, dass ich, der Schweizer, für ihn der typischste und wahrhaftigste Europäer sei – auf Grund meiner Sprachkenntnisse und des tiefen kulturellen Verständnisses für die verschiedenen europäischen Unternehmer an diesen Treffen. Das denkwürdigste dieser Treffen fand in Evian statt, mit den Spitzen der Industrien aus Deutschland und Frankreich. Es war ein unvergessliches Erlebnis für mich. Damals träumten wir – zumindest weiss ich, dass ich das tat – das Ziel Europas sei, eine grosse Schweiz zu werden. Nicht so sehr, weil ich dachte, die Schweiz sei die ideale Version des Paradieses, aber weil ich überzeugt war, dass dies, bei allen Schwächen, die beste aller möglichen Alternativen für Europa wäre, um eine wunderbare, gemeinsame Zukunft zu erreichen und gleichzeitig seine reiche Vielfalt und überwältigenden Kulturen zu erhalten. Es sollte eine gemeinsame Zukunft nicht nur für seine eigene Bevölkerung, sondern ein überzeugendes Beispiel für eine demokratische und friedliche Entwicklung für alle Völker des Planeten sein. Tatsache ist, dass Jean Monnet und Robert Schumann zu Beginn erklärten, dass die Schweiz ein Modell für eine zukünftige EU sei: «La Suisse représente un modèle pour l’Europe» – die Schweiz stellt ein Modell für Europa dar. Joschka Fischer, Jacques Chirac, Göran Persson und auch Vaclav Havel haben das in den letzten Jahren wiederholt. Übrigens – welch ein Zufall, dass Monnet, dieser hochgeachtete Europäer, am 16. März heute vor genau vor dreissig Jahren starb.
Meine Verbindungen zur EU in Brüssel fanden später ihre Fortsetzung zum Beispiel mit Romano Prodi, den ich kannte und der mich auch in manchen Kommissionen nach meiner Meinung fragte. Die Harmonisierung und Verbesserung der wirtschaftlichen und teilweise auch finanziellen Sektoren in Europa haben mich bisher nicht enttäuscht, auch wenn sie noch weit davon entfernt sind, perfekt zu sein. Der Umstand, dass die Kriege zwischen diesen grossen Nationen, Frankreich, Deutschland und Grossbritannien, die Europa verwüstet und die übrige Welt erschüttert haben, ein für alle Mal beendet wurden, ist zweifellos die grossartigste und bedeutsamste Leistung der Europäischen Gemeinschaft.
Aber der Fortschritt bei der Gestaltung der Strukturen kam plötzlich zum Stillstand. Die EU führte den Prozess zur Bildung einer starken, demokratischen und friedlichen Gemeinschaft, die für jedes wichtige Segment unseres Lebens und unserer Gesellschaft die emotionale Teilnahme und Hingabe jedes Bürgers oder zumindest einer Mehrheit ihrer Bürger einbezog, nicht weiter. Zu der Zeit war die Zahl der Mitgliedsländer begrenzt, was diesen wenigen Nationen erlaubt hätte, einen Bundesstaat ähnlich der Schweiz oder den Vereinigten Staaten zu bilden. Diese Entwicklung kam zum Stillstand, weil die Fragen und Probleme, die damit einhergingen, nicht leicht zu lösen waren zwischen Politikern und Nationen, die nicht bereit waren, einen bedeutenden Teil ihrer Souveränität und schon gar nicht ihre Privilegien aufzugeben.
Anstatt sich in die wichtigen Probleme, wie die Zukunft entwickelt und gestaltet werden könnte, zu vertiefen, entschieden sie sich, an der Oberfläche zu arbeiten und so viele Länder wie nur zu finden waren, hinzunehmen ... und das ohne die Völker derjenigen Länder, die die erste Phase Europas schufen, zu fragen, ob sie einverstanden seien oder nicht. Offensichtlich war es für das politische Establishment sehr wichtig, so viele Millionen und Abermillionen von Menschen und so viele Länder wie möglich in ein Europa einzubinden, das – ausser in ein paar beschränkten Bereichen des politischen Systems – noch nicht einmal definiert war. Der wichtigste Antrieb für diese Länder war die Möglichkeit, aus wirtschaftlichen und finanziellen Vergütungen Profit zu schlagen. Diese Erweiterung wäre mehr als willkommen gewesen, nach der Ausarbeitung der Struktur eines mehr oder weniger föderalen Europas. Zu diesem Zeitpunkt zerschlugen sich meine Hoffnungen auf ein baldiges, starkes, mächtiges, demokratisches und friedliches Europa ... ein Europa, das helfen würde, die Lebensqualität für diese ganze Welt, für uns alle zu verbessern.
Es erschien uns dann als schwerfällige, bürokratische und mehr oder weniger chaotische Mischung von ideologischen, sozialen, wirtschaftlichen und zum Teil finanziellen Konzepten, während alles andere dem Zufall, Gott und künftigen Generationen überlassen wurde. Dies schliesst natürlich die Möglichkeit, dass die EU – wie die meisten aussergewöhnlichen menschlichen Konstruktionen – im 22. oder 23. Jahrhundert zu einem fantastischen Erfolg wird, nicht aus, aber ich hoffe, dass das viel früher, in diesem Jahrhundert noch geschehen wird.
Der Euro als Währung ist ein deutliches Beispiel für eine weitere gute Leistung, die effizient, aber nicht vollständig umgesetzt wurde. Grossbritannien zum Beispiel lehnte es ab, den Euro zu übernehmen, es wäre aber in der Lage gewesen, das zu tun, während viele andere Länder wirtschaftlich nicht in einer Lage waren, sich dem Währungssystem anzuschliessen. Daher hat die Europäische Union eine starke Währung für ein paar Länder, aber nicht für alle. Übernehmen die finanziell schwächeren Länder in der gegenwärtigen Krise den Euro, könnten sie zu einer Belastung im Sinne von Unterstützung werden. Dennoch ist der Euro als solches so weit eine der besten Leistungen der EU und kann als Erfolg betrachtet werden.
Aber wie steht es mit der Vereinheitlichung sehr wichtiger Entscheidungen bezüglich Aussenpolitik, Verteidigung und Krieg? Für einen Schweizer Bürger ist es absolut unbegreiflich, dass ein Teil Europas ohne Zögern die Politik der Bush-Administration unterstützte und sich den Vereinigten Staaten im Krieg gegen den Irak anschloss. Grossbritannien, Spanien und andere europäische Länder entsandten Truppen für das Gefechtsaufgebot des US-Militärs, während Frankreich, Deutschland und andere eine Beteiligung gänzlich ablehnten. Für uns war das ein Beispiel einer schwachen gemeinsamen Aussenpolitik.
Darüber hinaus – und gegen die Wünsche Deutschlands und Frankreichs – unterzeichneten andere Länder zum Beispiel ein Abkommen mit der US-Regierung, das den USA oder der Nato erlaubte, Radar- und Raketensysteme in ihren Ländern zu installieren, die offiziell gegen Iran gerichtet waren. Russland erachtete diese Einrichtungen als Bedrohung seines Territoriums. Auch in diesem wichtigen Punkt gelang es den Mitgliedern der Europäischen Union nicht, sich zu einigen. Die Aussenpolitik ist nicht sichtbar, nirgends. Sie ist alles und nichts, und die Gewichtung für uns alle ist bedauerlicherweise schwach.
Die Europäische Union mit so vielen einzigartigen und starken Ländern hätte das ganze System festigen können, wenn sie einen Konsens erreicht hätte, sich über eine klar definierte Richtung, die sie in Europa und der übrigen Welt gehen wollte, geeinigt und die Ziele bestimmt hätte, die sie für alle wichtigen Aufgabenbereiche, Erfordernisse und Wünsche unserer menschlichen Gesellschaft und unserem politischen System anstreben möchte.
Vor alledem aber beschloss die Europäische Union die grösstmögliche Erweiterung dieses unvollständig definierten Systems, indem sie verschiedene Länder zum Beitritt einlud – teilweise auch solche im Nahen Osten. Nach dem möglichen Beitritt der Türkei würde das eine Ausweitung bis an die Grenzen von Syrien, dem Irak und Iran bedeuten. Ist das Ziel der EU, ihre Tore für eine zukünftige und vielleicht viel stärkere und funktionsfähige Europäische und Mittel-Ost-Union zu öffnen? Man vergesse nicht, dass Zypern nur wenige Kilometer vor Libanon liegt, in dem unzählige europäische Kreuzfahrer einst Zuflucht nahmen. Gehen wir einen Schritt weiter, könnte man den ganzen Nahen Osten und Israel einbeziehen und befrieden, indem Israeli und Palästinenser Teil der EU wären. Was für eine wunderbare Leistung wäre das für die ganze Welt. Gibt es irgendeinen stichhaltigen Grund, diese Entwicklung zu beenden? Nicht nur einige Schweizer, sondern auch viele Europäer haben sich dieselbe Frage gestellt.
Bis dahin aber lassen Sie uns wieder auf den Boden der Realität zurückkommen. Soweit ich weiss, gehören die Schweizer zur bestinformierten Bevölkerung, was Rolle und Aktivitäten der Europäischen Union anbelangt. Ich beziehe mich auf einen interessanten Artikel, den Andreas Gross, Mitglied unseres Parlaments und Schweizer Bürger, in der «Neuen Zürcher Zeitung» am 6. Februar 2009 publizierte – nur zwei Tage bevor das Schweizer Volk verschiedene Abkommen (unter anderem den freien Personenverkehr für die neuen EU-Bürger) annahm und damit seinen Willen bekundete, auf dem bilateralen Weg weiterzugehen, statt der EU beizutreten: In der Schweiz gab es mehr Volksbefragungen oder Abstimmungen über Europa als in jedem anderen europäischen Land. Im Laufe der letzten Jahrzehnte sind in verschiedenen europäischen Ländern viele Abstimmungen – mehr als 50 – durchgeführt worden. Die sechs Gründungsmitglieder der 1957 gegründeten Europäischen Union oder Gemeinschaft aber haben ihre Völker nie nach ihrer Zustimmung über die Gestaltung der Europäischen Union befragt, einzig Grossbritannien tat dies erfolgreich 18 Jahre später, 1975. Im Jahre 2005, 48 Jahre später, befragte Frankreich seine Bürger, ob sie die Europäische Verfassung annehmen möchten. Sie lehnten das ebenso ab wie später, 2006, die holländischen Bürger und zuletzt die Iren im Jahre 2008. Auf Grund ihres direktdemokratischen Systems sind die Schweizer Wähler, so wie jene in Dänemark, die bestinformierte Bevölkerung Europas, was die Angelegenheiten der EU betrifft. Lassen Sie uns also herausfinden, warum die Mehrheit der Schweizer Wähler einen EU-Beitritt ablehnt.
Abgesehen von den bereits erwähnten Tatsachen ist all den Erklärungen, Abkommen und Entwicklungen, die wir bisher gesehen haben, keine klare Vision von der Zukunft Europas zu entnehmen. Die Schweizer haben keinen sozialen, politischen, wirtschaftlichen oder finanziellen Anreiz zum Beitritt – im Gegenteil sind und werden sie gezwungen sein, grosse Beiträge in die Kassen der EU zu leisten. Bundeskanzler Helmut Kohl, für den ich als Mitglied seines strategischen Rates für Forschung, Technologie und Innovation für die Zukunft Deutschlands und Europas tätig war, beehrte mich mit einem privaten Besuch in der Schweiz. Während dieses Besuches sagte er: «Nicolas Hayek, Sie haben einige Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung in der Schweiz. Warum helfen Sie uns nicht, sie davon zu überzeugen, der EU beizutreten?» Ich antwortete: «Herr Bundeskanzler, warum ist es für die EU so wichtig, die winzige Schweiz – siebeneinhalb Millionen – dabeizuhaben?» Seine Antwort kam ohne Zögern und schneller als eine Gewehrkugel: «Weil ihr verdammt viel Geld habt, das wir gut verwenden können.»
Schweizer Kultur, Mentalität und Erziehung spielen bei der natürlichen Reaktion auf die EU, wie wir sie heute erleben, eine grosse Rolle. Die Schweizer Gesellschaft ist eine, die Macht und Gewalt völlig verachtet, auch Gewalt durch Macht. Es ist eine Gesellschaft, die den Frieden liebt und absolut gegen physische Gewalt ist. Eine Konzentration von zuviel Macht bei einer Person oder politischen Partei zum Beispiel wird nicht toleriert. Christoph Blocher von der Schweizerischen Volkspartei ist vielleicht ein typisches und das offensichtlichste jüngste Beispiel. Seine Partei hat die meisten Wählerstimmen in der Schweiz. Er war weit herum als effizienter Bundesrat (Minister) anerkannt, aber bei seinem Versuch, zuviel individuelle Macht zu kumulieren, wurde er durch Nationalrat (Volksvertretung) und Ständerat (Vertretung der Kantone) abgewählt. Freiheit und persönliche Freiheit für jedermann sind seit den Anfängen des Landes im 13. Jahrhundert in der Schweizer Seele verankert – lange bevor die Französische Revolution sie in den Vordergrund rückte. Die persönliche Freiheit des Bürgers ist oft wichtiger als die des Staates. Um es deutlicher zu sagen: Der Staat hat dem Bürger zu dienen und nicht der Bürger dem Staat. Sie sind Teil der wesentlichen Grundsätze, welche die Schweizer hoch schätzen. Es ist kein Zufall, dass Voltaire und viele andere in die Schweiz flohen, um frei schreiben und reden zu können. Das liegt wohl der reichen Tradition politischer und finanzieller Zuflucht (wie dem Bankgeheimnis) zugrunde, ein Recht, das die Schweizer so hochhalten.
Vergessen Sie nicht, dass es auch ein Schweizer war, der die Rotkreuz-Bewegung ins Leben rief. Henri Dunant konnte nicht akzeptieren, was er Ende des 19. Jahrhunderts auf den europäischen Schlachtfeldern bei Solferino in Italien gesehen hatte. Das Rote Kreuz ist eine typische Schweizer Schöpfung, und die Wirkung, die es hat, kann sich nur entfalten, weil die Schweiz weltweit als wirklich neutral erachtet und anerkannt ist. Was noch wichtiger ist: Sie wird als vollkommen demokratisch und die Menschenrechte achtend angesehen.
Darf ich Sie auch daran erinnern, dass die winzige Schweiz auch eine beträchtliche Industriemacht mit einer der stärksten Währungen ist. Sie ist auch eine Finanzmacht, und das wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch in nächster Zukunft so bleiben, selbst wenn die Gesetze zum Bankgeheimnis substantiell modifiziert oder im unwahrscheinlichen schlimmsten Fall gar abgeschafft würden. Die starke Währung und die politische Stabilität zusammen mit dem zutiefst demokratischen und neutralen Umfeld werden die Botschaft des sicheren Hafens einer Schweiz mit einer ehrlichen und von illegalen kriminellen Exzessen befreiten Finanzbranche konsolidieren.
Im Unterschied zu vielen, aber nicht nur europäischen Ländern, hatte das Land ausserdem nie das Bestreben, in fremde Länder in Afrika, Asien, Südamerika oder sonst wo einzufallen, um Kolonien zu bilden. Nicht nur Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und Portugal, sondern auch Holland und Belgien waren in die Bildung von Kolonien verwickelt und haben weit entfernte Länder für viele Jahre besetzt. Die Schweizer haben es nie als erstrebenswert erachtet, Kolonien zu haben, dies auch, weil die Schweizer Mentalität und Gesellschaft die Menschenrechte und die Integrität und Souveränität jeder Person und Gemeinschaft in der Welt in hohem Masse echt und grundlegend respektiert. Länder, die früher Kolonien hatten, haben die Menschenrechte zwar auch geachtet, aber sie haben die Kolonien zu der Zeit unter einem andern Gesichtspunkt betrachtet.
Das ist der Grund für die Beliebtheit und den positiven Ruf der Schweiz unter den neuen Ländern. Das führt uns zu unserer Neutralität. Auch wenn unsere Kultur derjenigen unserer Nachbarn und Verwandten in Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien (es gibt kaum einen Schweizer, der nicht Verwandte in Europa hat) wirklich sehr ähnlich, wenn nicht gleich ist, ist die Schweiz seit 1815 neutral, sie gehört nicht zur Nato oder irgendeinem anderen Militärbündnis. Die Schweiz ist eines der sehr wenigen Länder, die in der Lage waren, Minderheiten ohne Vorbehalt und Kompromiss mit genau denselben Rechten und Möglichkeiten zu integrieren. Wenn Sie das Tessin nehmen, den Italienisch sprechenden Teil der Schweiz, und in einem Rückblick schauen, wie viele Bundesräte aus diesem Teil unseres Landes stammten, werden Sie über die eindrückliche Zahl staunen. Ohne jede Übertreibung können wir wohl behaupten, dass die Minderheiten in der Schweiz eigentlich oft mehr Rechte haben als die Mehrheit. Wir neigen dazu, dies positive Diskriminierung zu nennen.
Ein weiteres Charakteristikum der Schweizer Gesellschaft ist, dass die Schweizer kein Bedürfnis haben, einen Personenkult um ein Individuum zu schaffen oder einen Politiker zu verehren, eine Superbundesrätin oder einen Superbundesrat zu küren. Dominante Persönlichkeiten machen die Schweizer misstrauisch. Sie akzeptieren und wählen intelligente, erfahrene, tüchtige Bürger, die ihre Pflichten so ehrlich wie möglich erfüllen, die das Geld der Steuerzahler sorgsam ausgeben und einsetzen. Deshalb sind unsere Steuern im Allgemeinen tiefer als in vielen unserer Nachbarländer, obwohl unsere Investitionen in unsere sozialen Einrichtungen und unsere Infrastrukturen höher oder mindestens ebenso hoch sind wie die unserer Nachbarn. Die Schweizer nutzen ihre demokratischen Stimm- und Wahlrechte jedes Mal, wenn wichtige Entscheidungen auf Gemeinde-, Kantons- oder Bundesebene anstehen. Das ist direkte Demokratie. Die Steuern müssen vom Steuerzahler festgelegt oder angenommen werden. Wenn es zum Beispiel um das Budget geht, verfügen wir über ein recht gut funktionierendes Kontrollsystem, auch wenn wir nicht behaupten können, dass alles unter Kontrolle sei oder Verschwendung nicht existiere. Auch wir haben diesbezüglich unsere Probleme.
Während meines ganzen Berufslebens habe ich gewisse destruktive und / oder illegale Aspekte des Banken- und Finanzsystems offen kritisiert. Ich habe diese Dinge regelmässig auch in Reden und Interviews in der Schweiz und im Ausland kritisiert. Ich gehöre zu den Schweizern, die über die Jahre ein gesundes Misstrauen gegenüber einem grossen Teil der weltweiten Finanzwirtschaft im allgemeinen und natürlich auch spezifischer gegenüber demjenigen in der Schweiz, in den USA und in Grossbritannien bewahrt haben.
Viele Schweizer haben allerdings kein hochentwickeltes Empfinden für Verbrechen, wenn es um die Deklarierung von jedem Stückchen steuerbaren Einkommens geht. Sie tendieren eher dazu, das als kleinere widerrechtliche Übertretung zu betrachten, als «Kavaliersdelikt». Das durchschnittliche Schweizer Regierungsmitglied, ich wiederhole es, behandelt und verwaltet das Geld des Steuerzahlers, als wäre es sein eigenes, auf sparsame Weise. Die Schweizer schätzten die heuchlerischen Ausschweifungen der Vögte und Provinzstatthalter während Jahrhunderten gar nicht, die darauf bestanden, soviel Steuern wie nur irgend möglich von ihren Untertanen einzutreiben, wenn nötig auch mit brutaler Waffengewalt, und diese Steuern gegen die Interessen ihrer Untertanen verwendeten. Hier denke ich zum Beispiel an Wilhelm Tell, den Schweizer Nationalhelden aus einem Drama, das der Deutsche Friedrich Schiller schrieb.
Und deshalb wurde eine – lassen Sie uns sagen «vergessene» – Steuerdeklaration als eine vergleichsweise geringfügige illegale Handlung betrachtet, ohne dass man den Verdacht gehegt hätte, es könnte sich um eine ernsthafte kriminelle Handlung handeln, wie sie offenbar vor kurzem von wenigstens einer wichtigen Schweizer Bank begangen wurde. Die Schweiz oder wenigstens einige Beamte behaupten jedoch, dass die Schweizer Bürger diejenigen mit der prozentual geringsten Steuerhinterziehung seien, verglichen mit den Bürgern aller anderen Industrienationen. Für jeden Schweizer ist es ganz natürlich, dass jeder Fall von Steuerhinterziehung, auch wenn die Angaben «aus Bequemlichkeit» vergessen wurden, bestraft werden sollte. Andererseits sollte die Bestrafung gleichmässig und dem «Verbrechen» angemessen ausfallen, und nicht übertrieben und zu einer Dimension aufgeblasen werden, die es nicht verdient. Wie wir alle wissen, gewinnt diese Situation im Moment eine starke kontroverse Dynamik. Der Schutz der Privatsphäre vor der grenzenlosen Neugierde der Regierungen ist legitim und wird von den Schweizern als ein äusserst wichtiges Gut angesehen, aber nicht nur von ihnen. Andere europäische Länder sind in letzter Zeit auf der Seite der Schweiz ebenfalls in den Kampf darum eingetreten.
Nicht nur gibt es in der Schweiz keinen Personenkult um eine Superfrau oder einen Supermann, die Schweizer Regierung hat auch absolut keine Orden oder andere Dekorationen zu vergeben, um ihre Bürger für herausragende Leistungen zu ehren. Allerdings gibt es Schweizer Bürger, die stolz sind, von ausländischen Regierungen Auszeichnungen zu erhalten. Die Schweizer Regierung ist eine der stabilsten in der Welt. Es sind praktisch alle wichtige Parteien beteiligt, und daher hat sie eine hohe Akzeptanz in der Schweizer Bevölkerung.
Sie arbeiten alle zusammen, auch in Konfliktsituationen, und es ist es bemerkenswert, dass sie trotz unterschiedlicher Vorstellungen eine Vereinbarung, einen Kompromiss erzielen. Wir nennen es «Konkordanz». Es funktioniert nicht immer so, wie einige Leute das gern hätten, aber zum Schluss gibt es eine Lösung, die immer von allen demokratisch akzeptiert wird, obwohl vielleicht manchmal ein bisschen widerwillig oder zähneknirschend. Die Entscheidung des Volkes wird von allen respektiert, ich wiederhole, von allen, sogar von dem eingebildetsten Bundesrat oder Präsidenten.
Die Schweizer haben eine bemerkenswert starke Währung. Die Schweiz übt in Gelddingen eine Disziplin, die den Schweizerfranken zu einer der zwei oder drei stabilsten Währungen in der Welt machen, ja sie ist sogar die Währung, die in der modernen Welt während dem längsten Zeitraum am stabilsten gewesen ist.
Auch haben wir eine erstaunliche Fähigkeit zu verhandeln und Kompromisse zu finden. Das ist einer der zentralen Gründe für die Stabilität unseres politischen und sozialen Systems, dass wir immer akzeptable Kompromisse für alle finden, ohne dass wir einen inneren Krieg ausfechten müssen. Das zeigt sich, wie ich schon erwähnte, in der «Konkordanz». Oder in unseren Beziehungen zu den Gewerkschaften, mit denen wir eine Vereinbarung getroffen haben, nach der Streiks – zerstörerisch für die Wirtschaft und die Arbeiterschaft und eine Störung für das Publikum – fast nicht vorkommen. Es ist eine einmalige Erfahrung, an harten Verhandlungen beteiligt zu sein, in denen die Positionen am Anfang meilenweit voneinander entfernt waren. Nach ein paar Wochen oder Monaten mit Gesprächen sind jedoch alle mehr oder weniger glücklich einverstanden.
Das Ergebnis ist ein besseres und höheres Einkommen für alle als in den meisten anderen Ländern, und ein hoher Lebensstandard für praktisch alle Menschen. Das schafft eine Brücke zwischen den sozusagen nicht existierenden Stufen der Schweizer Gesellschaft, die erstaunlicherweise kein Proletariat kennt, keine grossen sozialen Unterschiede zwischen ihren Menschen. Egal wie hoch oder tief unser Einkommen ist, wir fühlen uns alle sehr gleichwertig und betrachten uns als Vollmitglieder unserer Gesellschaft. Das mag vielen jungen Bürgern langweilig erscheinen, aber für die Stabilität und Gesundheit der Nation ist es wichtig zu wissen, dass schlussendlich Gewalt niemals nötig ist, um zu einer akzeptablen Lösung zu kommen.
Die Schweizer sind globaler eingestellt als die meisten Angehörigen anderer Nationen. Auf Grund ihrer Erziehung, der Schweizer Kultur und der Mehrsprachigkeit vieler Bürger und auch wegen der Kleinheit ihres Landes unternimmt eine grosse Mehrheit der Schweizer ausgedehnte Reisen und kennt den Rest der Welt sehr gut. Sie werden für ihr gutes Benehmen im Ausland hoch respektiert, ebenso für ihre Mentalität und für die Qualität ihrer Arbeit und Produkte.
Die äusserst solide Lehrlingsausbildung, nebst den Universitäten, den Ingenieurs- und anderen Berufsschulen, auf der Grundlage der Solidarität der Industrien mit den Menschen und zwischen den Generationen, das exzellente Know-how der Handwerkskunst verbunden mit moderner Technologie und dem Sinn für Schönheit und hohe Qualität sind einzigartig. Nur wenige Länder können ein ähnliches System vorweisen. In der Schweiz haben sich diese Strukturen fast zur Perfektion entwickelt – über viele Jahre hinweg und in allen Bereichen der Wirtschaft, vom Schmied zum Installateur, vom Schreiner zum Koch und Konditor – alle haben eine hohe Reputation für ihre gute Schweizer Arbeit. Die Universitäten der Schweiz sind unter den Besten der Welt: Die Eidgenössischen Hochschulen für Technologie in Zürich und Lausanne ebenso wie die Universitäten in Bern, Basel, Genf, Lausanne (wo die Monnet-Stiftung für Europa ihren Sitz hat), Neuenburg, Freiburg, Lugano, Luzern, Zürich und so weiter. Die Schweiz hat auch eine überaus grosse Anzahl von Nobelpreisträgern in Relation zu ihrer Bevölkerungsgrösse.
Darüber hinaus verwendet die Schweiz das Milizsystem für ihre Armee und wendet dieses Prinzip auch auf die Politik an – in einigen kleineren Kantonen hat der Gemeindepräsident einen Teilzeitjob, den er in seiner Freizeit ausführt. Und erstaunlicherweise kann sogar ein Armeeangehöriger seine Waffe zu Hause aufbewahren. Das verstärkt das Gefühl der Sicherheit und die Verbundenheit des Schweizer Volkes mit seiner Armee. Das Thema der Aufbewahrung der Waffe wird allerdings zurzeit diskutiert, und das System könnte sich bald ändern. Wir werden sehen.
Die Schweiz ist eine sehr moderne Gemeinschaft und in praktisch jeder Ecke ihres gebirgigen Terrains wurde dieselbe moderne Infrastruktur entwickelt wie in allen anderen Gebieten. Soziale Sicherheit gibt es auf allen Ebenen, und die Kranken- und Invalidenversicherung ist eine der effizientesten der Welt.
Wenn ich über die Schweizer Infrastruktur spreche, muss ich auch die hochgelobten Spitäler erwähnen, die Eisenbahn, die fast immer pünktlich ist, und die hochqualifizierten Forschungs- und Entwicklungszentren, wahre Tempel des Wissens. Lassen Sie mich noch hinzufügen, dass eine saubere Umgebung ein weiterer Beweis dafür ist, dass die Schweizer den höchsten Respekt für die Ökologie, die Schönheit der Landschaft und Mutter Erde hegen.
Aus all diesen Gründen und wegen der absoluten Neutralität der Schweiz haben die Vereinten Nationen und viele internationale Organisationen ihren Sitz in der Schweiz errichtet. Das Internationale Olympische Komitee, die FIFA, der Internationale Ruderverband, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, das Nuklearforschungszentrum Cern und viele andere haben den neutralen und sicheren Boden der Schweiz für ihr Hauptquartier ausgewählt, ebenso wie die über 1,6 Millionen Ausländer, die hier friedlich und glücklich leben. Die Schweiz hat einen der höchsten, wenn nicht den höchsten Prozentsatz ausländischer Bürger. Mehr als eine Person von fünf ist Ausländer, hauptsächlich aus der EU. Dieser Prozentsatz steigt die ganze Zeit, nicht zuletzt wegen der Lebensqualität und des hohen Lebensstandards. Und darin sind die vielen «Grenzgänger» nicht enthalten, die täglich aus Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland kommen, um hier zu arbeiten.
Die Schweiz ist im 13. Jahrhundert von 3 Kantonen gegründet worden, und mit der Zeit kamen 23 weitere Kantone hinzu. Während Hunderten von Jahren haben sie eine sehr starke Souveränität auf Kantonsebene beibehalten. Die Schweizer Regierung, wie Sie vielleicht alle wissen, ist nicht so mächtig wie die anderer Länder, auch wenn sie die Macht hat, über Aussenpolitik, Infrastruktur und Verteidigungsangelegenheiten und andere wichtige Bereiche unseres Lebens zu entscheiden. Aber die Schweizer schätzen eine starke Zentralmacht nicht und noch weniger, wenn diese sich in Brüssel befindet, das als eine Institution angesehen wird, die ständig ihre Macht und ihren Einfluss zu mehren sucht.
Wir Schweizer haben, wie alle Menschen, eine Menge Defizite, Nachteile und Schwächen und – jawohl – wir machen auch Fehler. Aber darüber zu sprechen, besteht heute nicht Notwendigkeit und haben wir nicht die Zeit, denn sie sind irrelevant bei unserem Entscheidungsprozess bezüglich Europa. Ausserdem könnten sie die dynamische Botschaft der Schweiz nicht zerstören. Die Schweiz wird als eine Perle betrachtet.
Der EU mit Herz und Seele beizutreten, könnte einen grossen Teil dieser Perle zerstören. Und das wäre weder im Interesse der Schweizer noch im Interesse der Menschen in Europa und schon gar nicht im Interesse der Menschen der Welt. Die Schweiz ist zweifellos europäisch, sie ist im Herzen Europas, und niemand, nicht einmal die Schweizer selbst, kann uns aus dieser wunderbaren und wunderschönen europäischen Landkarte herausschneiden. Darum ist der Handel zwischen der Schweiz und Europa so wichtig. Wir kaufen von Europa mehr, als wir nach Europa verkaufen, aber sowohl Exporte als auch Importe sind substanziell und absolut lebensnotwendig, wie Sie alle wissen. Es wäre ein sehr grosser Fehler, wenn einer der beiden Partner versuchen würde, den anderen in Bezug auf diesen sehr positiven wirtschaftlichen Austausch zu erpressen.
Exzellenzen, meine Damen und Herren, das waren die offen und ehrlich – und ich gebe zu, auch einseitig und vielleicht übermässig positiv – dargestellten Ansichten eines durchschnittlichen Schweizers und motivierten Europäers.
Nun sagen Sie mir bitte, wenn Sie Schweizer wären, würden Sie dieser EU heute beitreten wollen? Ich habe sogar den starken Verdacht, dass nachdem Sie meine Rede angehört haben, Sie sich wahrscheinlich weigern würden, die Schweiz in der EU zu akzeptieren, falls diese sich eine Vollmitgliedschaft wünschte. Aber lassen wir den Dialog offen. Denken Sie daran: Wir können immer einen konstruktiven Kompromiss finden.
Originaltext Englisch, Übersetzung Zeit-Fragen / Swatch Group.